Pop, Rock, Jazz: Aktuelle Alben im Test

Unheilig - Lichter der Stadt
Musik aus der schwarzen Szene? Eher ein Kessel Buntes! Mit "Lichter der Stadt" darf man bei Unheilig das Präfix "düster" weglassen. Der Nachfolger des Megasellers "Große Freiheit" (2010) ist Pop für alle: für Schlager- und Hardrockfans, für Anhänger von Pathos-Soul, sogar an U2 darf man denken. Und wer sehnt sich nicht - wie der Graf in seinen Texten - nach dem Einfachen, der Unbedarftheit, dem Gefühl der Kindheit zurück?
Fazit: Pop für eine größtmögliche Zielgruppe
Musik: 6/10 Punkte
Klang: 6/10 Punkte
Vertigo / Universal (63:43, auch als 2 CD, 2 CD + DVD)
www.unheilig.com

The Stranglers - Giants
Man sollte bei "Giants", dem 17. Studioalbum der Stranglers und ersten seit sechs Jahren, nicht nur von einer triumphalen Rückkehr sprechen, die nahtlos an ihre Großtaten der 70er-Jahre anknüpft. Fast alle "Würger" sind im Rentenalter, und der beste Stranglers-Vokalist war ohnehin Hugh Cornwell. Trotzdem finden sich viele gute Songs auf "Giants", die sich am rohen Ur-Sound der Briten orientieren. Die Alt-Punks lassen ihrer überbordenden Spielfreude freien Lauf.
Fazit: Senil ist das nicht! Diese Punk-Senioren reißen mit.
Musik: 7/10 Punkte
Klang: 7/10 Punkte
Earmusic / Edel (42:44, auch als LP, 2 CD)
www.thestranglers.net

Curtis Stigers - Let'S Go Out Tonight
Nicht irritieren lassen vom Cover, vom melancholischen Herzensbrecher mit der Rose - Curtis Stigers ist alles, nur kein Schmalzbubi. Der Ex-Popstar ("I Wonder Why") hat sich längst als Jazz-Crooner profiliert. Hier nun mischt er sein Können mit einer Prise Blues und kredenzt im Kreise von Top-Musikern zehn hinreißende Songs in ruhiger Gangart. Atmosphäre wird ganz groß geschrieben, wenn Stigers seine Moritaten von Verführung oder Abschied haucht.
Fazit: Eine Stimme, die mitten ins Herz sticht.
Musik: 9/10 Punkte
Klang: 9/10 Punkte
Concord / Universal (45:01)
www.curtisstigers.com

Nanne Emelie - Once Upon A Town
Die sprichwörtliche Liberalität skandinavischer Frauen meint nicht allein gesellschaftliche Konventionen - auch in der Kunst ist erlaubt, was gefällt. Pop oder Jazz? Egal, sagen sich Solveig Slettahjell & Co. - Hauptsache, das Ergebnis stimmt. Das tut es bei Nanne Emelies Debütalbum definitiv. Softer Jazz, knackiger Soulrock, Britpop a la Goldfrapp und dramatische, raumgreifende Balladen werden zusammengehalten vom frechen Charme der jungen, weltläufigen Dänin.
Fazit: Frische Songs, kurzweilige Arrangements.
Musik: 8/10 Punkte
Klang: 8/10 Punkte
VME / Soulfood (36:44)
www.nanneemelie.com

White Rabbits - Milk Famous
Der Zaubertrick ist natürlich bekannt: Man präsentiere dem Publikum hübsch sensible Indie-Pop-Melodien. Lauere dazu in der Hinterhand mit rhythmischen New-Wave- und 80er-Pop-Spielereien und elektronischen Effekten. Nenne seinen eigenen Stil großspurig "Honky Tonk Calypso". Warum die White Rabbits auf "Milk Famous" dennoch bezaubern? Weil man die Ähnlichkeiten zu anderen Magiern (Phoenix, Spoon, Radiohead) zwar erahnt, jene aber in ihrer Vielfalt nie zu offensichtlich sind.
Fazit: Verwandlungsfähige weiße Kaninchen.
Musik: 7/10 Punkte
Klang: 6/10 Punkte
Mute / GoodToGo (40:25, auch als LP)
www.whiterabbitsmusic.com

Wallis Bird - Wallis Bird
Selbstbetitelte Alben in einer Karriere sind ja meist routinierte Spätwerke oder aufsehenerregende Debüts. Das dritte Album der irischen Songwriterin Wallis Bird ist irgendwie beides. Erstmalig hat die 30-Jährige zu einer künstlerischen Leichtigkeit gefunden, die sie wegbringt vom Klischee der hippiesken Melissa Etheridge. Die Röhre hört man auf "Wallis Bird" zwar immer noch, genauso aber auch eine Joni Mitchell, Feist oder Emiliana Torrini. Selbstfindung geglückt.
Fazit: Die Irin findet auf "Wallis Bird" zu sich.
Musik: 7/10 Punkte
Klang: 6/10 Punkte
Bird Records / Rough Trade (41:40, auch als LP)
www.wallisbird.com

Frankie Rose - Interstellar
Frankie Rose And The Outs sind out - genauso wie der Girl-Fuzz-Pop ihrer Ex-Bands Dum Dum -und Vivian Girls. Die New Yorkerin lässt ihre Vergangenheit hinter sich und setzt auf: 80er-Pop, jenseits von Raum und Zeit. "I always have a big picture in mind", sagt sie und gibt sich sphärischem Dream-Pop und epischen Wave-Sounds hin. So muss dunkle Materie klingen - irgendwo zwischen Phil Spector und The XX. Verführerisch, verlockend, interstellar.
Fazit: Hinter der Wall Of Sound wartet Dream-Pop.
Musik: 7/10 Punkte
Klang: 8/10 Punkte
Memphis Industries / Indigo (32:52, auch als LP)
www.missfrankierose.com

Hanne Hukkelberg - Featherbrain
Am Ende ihres vierten Albums "Featherbrain" stimmt die Norwegerin Hanne Hukkelberg, gemeinsam mit dem 88-jährigen Sänger Erik Vister, einen zutiefst berührenden, minimalistischen Kanon an. Die zuvor auf "Featherbrain" präsentierte Sinnesreise aus Freejazz, Indie, Folk und Elektro wirkt augenscheinlich dissonant - doch je tiefer man in die Musik der zur Exzentrik neigenden Songwriterin eintaucht, desto mehr offenbarende Momente wird man finden.
Fazit: Exzentrisches, aber schillerndes Klangexperiment.
Musik: 8/10 Punkte
Klang: 8/10 Punkte
Nettwerk / Soulfood (40:41)
www.hannehukkelberg.com

Birdy - Birdy
Dass die erst 15-jährige Jasmin van den Bogaerde, alias Birdy, schon einige Male in den britischen Charts war, ist ein Indiz für möglichen Erfolg. Ihren Piano-Pop jedoch direkt als Sensation abzufeiern ist wohl verfrüht. Das scheinbar hastig entworfene Debüt enthält vor allem Coversongs (Phoenix, Bon Iver, Fleet Foxes), einige zu groß für das junge Mädchen. Die einzige Eigenkomposition, "Without A Sword", hingegen ist nicht mal schlecht.
Fazit: Wenn Birdy den Hype überlebt, darf man wohl noch einiges von ihr in Zukunft erwarten.
Musik: 5/10 Punkte
Klang: 8/10 Punkte
Warner / Warner (44:00)
www.officialbirdy.com

Paul Weller - Sonik Kicks
Der ewig coole und allezeit juvenil wirkende Britpop-Pate Paul Weller wird kommenden Mai bereits 54 Jahre alt. Und seine Geschmacks-Gene scheinen immer noch wie in Stein gemeißelt zu sein: Selbst zum Zigaretten holen geht der Modfather top gestylt aus dem Haus - und natürlich macht er auch bei der optischen Gestaltung seiner Musik keine halben Sachen: Art-Director Simon Halfon kreiert seit fast 30 Jahren die Hüllen seiner Alben.
Auch das Artwork des neuen Weller-Longplayers "Sonik Kicks" kann sich sehen lassen. In versierterBildsprache beschreibt es auf einen Blick die Symbiose von klassischem Britpop-Chic und psychedelisch angehauchtem Retro-Futurismus. Treffender könnte man den Sound auf Wellers mittlerweile elftem Solo-Album ohnehin nicht beschreiben. Obwohl jedes seiner bisherigen Werke einen eigenen Charme versprühte, konnte man stets musikalische Parallelen beim Hören entdecken. Folk, Soul und Rock'n'Roll bahnten sich ihren Weg durch den tiefgründigen Weller-Sound und gewährten sich abwechselnd die stilistische Vormachtstellung.
Auf "Sonik Kicks" scheint jedoch alles so dicht miteinander verwoben, dass eine gänzlich neue Atmosphäre entstanden ist, die Weller und geladene Gäste (u. a. Wieder-Blur-Saitenmann Graham Coxon und Ex-Oasis-Mastermind Noel Gallagher) mit Hilfe von opulenten Studio-Spielereien umgesetzt haben. Die Gentlemen laden zu einem geselligen Space-Rock-Abend ein, der sich emotional sowohl in den 60er-Jahren als auch im Hier und Jetzt einordnen lässt.
Fazit: So modern klang der Godfather des Britpop bisher noch nie.
Musik: 8/10 Punkte
Klang: 8/10 Punkte
Cooperative / Universal (43:32, auch als CD + DVD, LP)
www.paulweller.com

Dr. John - Locked Down
Die eine Hälfte der Black Keys, Dan Auerbach, mag erst Anfang 30 sein, aber wenn er seinen versierten Neo-Blues abfeuert, könnte man ihm auch die Erfahrung eines 71-Jährigen andichten. Zufällig ist der Roots-Zauberer aus New Orleans, Dr. John, genauso alt, also warum denn nicht mal gemeinsam aufnehmen? Richtig, "Locked Down" klingt, tönt und vibriert genauso fulminant, wie man das in der Theorie erwartet hätte.
Fazit: Ein Album, das Blues, Soul und Funk schnörkellos verbindet und die Hütte rockt.
Musik: 9/10 Punkte
Klang: 7/10 Punkte
Nonesuch / Warner (42:33, auch als LP)
www.nitetripper.com

Johnny Cash - Bootleg, Vol.4: The Soul of Truth
Dass Johnny Cash ein zerrütteter, aber zeitlebens sehr gläubiger Christ war, ist bekannt. Wie sehr ihn die afroamerikanische Gospelmusik geprägt hat, zeigt die Zusammenstellung "Bootleg, Vol. 4: The Soul Of Truth" nun erneut. Der vierte Teil der posthum erscheinenden Bootleg-Reihe versammelt ganze 51 Stücke auf zwei CDs, darunter auch bisher unveröffentlichtes Material. Hier hört man Cash in der Blüte seines Lebens und seiner Karriere. Die Stücke, teils traditionelle Gospels und Spirituals, teils von Cash und anderen bekannten Country-Songwritern wie Billy Joe Shaver und Bill Monroe geschrieben, stammen aus der Zeit von Mitte der 70er bis Anfang der 80er-Jahre. Viele Duette sind darunter, unter anderem mit seiner Frau June Carter Cash und seiner Tochter Rosanne. Die ersten 20 Songs der Doppel-CD dürften dem Cash-Fan bekannt sein, sie sind bereits 1979 erfolgreich unter dem Albumtitel "A Believer Sings The Truth" erschienen.
Dennoch: Dass hier ein Gläubiger die Wahrheit singt, bestätigt auch Johnny Cashs Sohn, John Carter Cash, im Booklet. Er erzählt, wie die Gospelmusik seinen Vater von frühester Kindheit an begleitet und geprägt hat, als gemeinsames Lied bei der harten Feldarbeit und am Sonntag im Kirchenchor, und wie sein Glauben und die mit ihm eng verknüpfte Gospelmusik ihn in schweren Zeiten immer wieder zu trösten vermochte. Den Respekt und die Begeisterung für diese Art von Musik glaubt man tatsächlich aus jeder Note von "Bootleg, Vol. 4: The Soul Of Truth" herauszuhören, so präsent und selbstsicher, ja, so fröhlich klingt Johnny Cash hier.
Diese eher unbekannte Facette in seinem Schaffen hier (wieder) zu entdecken, lohnt nicht nur für Fans. Aufgrund der Qualität der Songs kann man auch über den "Bootleg"-Sound hinwegsehen und verzeihen, dass die Aufnahmen hier und da leicht rauschen und holpern.
Fazit: Cash singt Gospel: Raritäten - nicht nur für Fans.
Musik: 7/10
Klang: 6/10
Bear Family (357:58)
www.bear-family.de

ABBA - The Visitors
"It's better to burn out than to fade away" - wenn man so will, haben sich ABBA nicht an Neil Youngs Maxime gehalten. Streng genommen löste sich der Pop-Vierer nie auf, ein dementsprechendes offizielles Statement der Band gab es nie. Aber die persönlichen Prioritäten verschoben sich, die Mitglieder hatten sich auseinandergelebt - und das auch jenseits der für alle sichtbar zerbrochenen Ehen von Björn und Agnetha, von Benny und Frida. So ist auch ihr letztes Studioalbum "The Visitors" (1981) das nun in einer CD+DVD-Deluxe-Version vorliegt, eine Momentaufnahme einer sich langsamen auflösenden Band.
Der selbst gewählte Anspruch war hoch: Mit dem vergleichsweise kantigen Titelsong und dem nahe an der Prog-Parodie agierenden "Soldiers" reflektierten ABBA den Kalten Krieg der frühen 80-er. "One Of Us" und "When All Is Said And Done" wollten und konnten ihren direkten Bezug zur Trennung der beiden Ehepaare nicht leugnen. Die theatralische Mini-Sinfonie "I Let The Music Speak" wartet mit Musical-Elementen auf, die Benny und Björn später bei der Arbeit an "Chess" wieder aufgriffen. Erst in der Verlängerung (hier als Bonustracks enthalten), bei ihren letzten Aufnahmen 1982, gelang ABBA ein letztes Pop-Meisterstück: "The Day Before You Came", das mit minimalem, repetitivem Synthie-Einsatz eine Blaupause für die künftigen Songs hätte sein können. Im Übrigen: Die groß angekündigte, unveröffentlichte Aufnahme ist nur ein Zusammenschnitt von mehreren Demoversionen von "Like An Angel Passing Through My Room" - und eher verzichtbar.
Fazit: ABBAs Schwanengesang: der sanfte Fade-Out einer einst großen Popband.
Musik: 7/10 Punkte
Klang: 7/10 Punkte
Polar / UniversaI (73:53)
www.abbasite.com

Billy Hart - All Our Reasons
Für Ethan Iverson, den stets ein wenig unterschätzten Pianisten von The Bad Plus, ist dieses Quartett die Gelegenheit, sich als wandlungsfähiger Stil-Modernist auch in einem akustisch fein austarierten Rahmen zur präsentieren. Und nicht nur für ihn, denn auch Schlagzeug-Veteran Billy Hart genießt es hörbar, sein Instrument in allen Nuancen ausspielen zu können. Mit Saxofonist Mark Turner und Bassist Ben Street gelingen Verweise auf eine Geschichte, die Billy Hart mitgeprägt hat.
Fazit: Ein zeitlos opulentes Album.
Musik: 8/10
Klang: 9/10
ECM / Universal (59:36)
www.billyhartmusic.com

Caroline Henderson - Jazz, Love & Henderson
Jazz - das ist für die in Stockholm geborene Wahl-Kopenhagenerin nicht nur Musik, sondern eine Geisteshaltung. Und das hört man: Ihre Stimme transportiert großes Drama oder berückende Intimität, auch und gerade auf ihrem neuen Album, eine Art "persönlicher Soundtrack", für den sie fast alle Songs selbst geschrieben hat. Ob filmreifes Panorama mit sehnsuchtsvollen Streichern oder Bigband-Nostalgie: Caroline Henderson zeigt wieder mal ihre Klasse.
Fazit: Raffiniert altmodisch, verdammt sexy.
Musik: 8/10 Punkte
Klang: 8/10 Punkte
Sony Classical / Sony (37:24)
www.carolinehenderson.com