Einschätzung
Windows-Neustart - Nokia ist nicht Apple
Acht Monate nach der Ankündigung, zukünftig eng mit Microsoft zusammen zu arbeiten, hat der weltgrößte Handy-Hersteller Nokia endlich seine ersten Smartphones mit Windows Phone vorgestellt. Kann der Neustart gelingen? Wir geben eine Einschätzung.

Die letzten Monate waren nicht einfach. "Wir hatten einige schwierige Momente und harte Entscheidungen zu treffen", sagte Nokia-Chef Stephen Elop bei der Präsentation der neuen Geräte. Keiner weiß besser als er, wie dicht Nokia mittlerweile am Abgrund steht. Das lukrative Smartphone-Segment wird von Apples iPhone und Googles Android dominiert, im Einsteigerbereich machen chinesische Hersteller wie Huawei oder ZTE den Finnen das Leben schwer. Allein innerhalb der vergangenen Monate brach Nokias Umsatz in Europa um 39 Prozent ein. In Deutschland steht der einstige Handy-Pionier bei den Smartphone-Verkäufen nur noch an vierter Stelle. Wenn die neuen Windows Phones floppen, dann ist die Zukunft des Unternehmens ernsthaft bedroht.
"It looks awesome!"
In London feuerte Elop heute den Startschuss für die Wende ab. Auf einer riesigen Bühne wurden die ersten beiden Windows Phones von Nokia präsentiert, das Highend-Smartphone Lumia 800 und das Mittelklasse-Modell Lumia 710. Dabei war den Beteiligten die Nervosität anzumerken. "It looks awesome!", brüllte der Windows-Chefentwickler von Nokia, Kevin Shields, in Richtung Kamera und Publikum. In seinem Kraftschrei schwang aber neben der Erleichterung, es endlich geschafft zu haben, auch die Angst mit, dass es vielleicht schon wieder nicht reichen könnte.
Das Publikum applaudierte artig. Aber man hatte sich doch insgeheim ein bisschen mehr erhofft. Die beiden gezeigten Modelle waren bereits am Vorabend im Internet durchgesickert und viele dachten, dass Elop und Shields noch ein bahnbrechendes Spitzenmodell aus dem Ärmel zaubern, mit dem keiner gerechnet hat. Aber das "One more thing" blieb aus. Nokia ist eben nicht Apple. Dabei hat der einzige finnische Konzern von Weltrang beachtliches geleistet. Innerhalb von nicht einmal einem Jahr gelang es Nokia, nicht nur ein neues Betriebssystem in seine Hardware-Lieferantenkette zu integrieren, sondern gleichzeitig seine Software-Dienste für das System umzuschreiben. Selbst im schnelllebigen Mobilfunkmarkt verdient dieses Rekordtempo großen Respekt. Neben dem Musikdienst Nokia Music könnte sich vor allem die Navi-Anwendung Nokia Drive zu einem wichtigen Verkaufsargument für die Nokia Phones entwickeln.
Keine technischen Glanzpunkte
Das Spitzenmodell 800 als "das erste richtige Windows Phone" (Elop) zu bezeichnen, ist aber mächtig übertrieben. Technisch kann es keine Glanzpunkte setzen. 8 Megapixel-Kamera oder 1,4-Gigahertz-Prozessor findet man auch in den Windows Phones von HTC und Samsung. Selbst das hochgelobte Polycarbonat-Gehäuse reißt nicht vom Hocker - wer das HTC Titan im Aluminium-Unibody gesehen hat, der weiß, dass auch andere Hersteller Technik gut verpacken können.
Der Preis ein ganz wichtiger Faktor. Die Rückkehr in den von Google und Apple erfolgreich besetzten Smartphone-Markt kann nur gelingen, wenn Nokia seine Geräte günstiger verkauft als die Konkurrenz. An diesem Hebel setzt vor allem das Lumia 710 an, das bereits ab 320 Euro über die Ladentheken wandern wird. Gigahertz-Prozessor, 3,5-Zoll-Touchscreen, 5-Megapixel-Kamera, kostenlose Navigation - in Anbetracht der gebotenen Ausstattung ist das ein Schnäppchen. Kein anderer Hersteller bietet so viele Funktionen zu diesem Kampfpreis.
Anders sieht es beim Spitzenmodell Lumia 800 aus, das für 500 Euro über die Ladentheke gehen soll. In diesen Regionen tummelt sich auch das Motorola RAZR, das in einem nur 7 Millimeter dünnen Kevlar-Gehäuse steckt und über einen mehr als 4 Zoll großen AMOLED-Touchscreen bedient wird. Gerade im gehobenen Preissegment ist der Markt voll von solchen Top-Geräten, die es gut mit dem 800 aufnehmen können.
Der "dritte Weg"
Nokia braucht Schützenhilfe - und bekommt sie auch. In seltener Übereinstimmung haben hochrangige Vertreter großer deutscher Netzbetreiber das 800 gelobt, bevor es überhaupt offiziell vorgestellt wurde. Und die ersten Verkaufsankündigungen wurden verschickt, als Stephen Elop in London noch auf der Bühne stand. Mittlerweile ist bekannt, dass in Deutschland alle Netzbetreiber und großen Provider wie mobilcom-debitel mindestens eines der beiden Windows Phones von Nokia in ihr Programm aufnehmen und schlagkräftig bewerben werden. So was kennt man sonst nur vom iPhone.
Die Netzbetreiber drücken Nokia mit aller Macht in den Markt zurück. Denn auch wenn sich o2-Deutschland-Chef Rene Schuster zum Verkausfstart des iPhone 4S hinter die Ladentheke stellt, ist sein Verhältnis zu Apple gespalten. o2 & co. sehen die wachsende Macht von Android & Co mit Skepsis, weil sie sie angreifbar macht und in Abhängigkeiten zwingt. Nokia rennt mit seinem auch wieder in London beschworenen "dritten Weg" zwischen Google und Apple offene Türen bei den Netzbetreibern ein.
Fazit: Nokia kann es schaffen
Mit seinen Produkten hat Nokia heute weder überrascht noch beeindruckt. Das Unternehmen hat vielmehr geliefert, was erwartet wurde - nicht mehr und nicht weniger. Für den erhofften Neustart kann das sogar reichen. Aber nicht, weil die neuen Windows Phones aus der Masse herausragen, sondern weil der Mobilfunkmarkt Alternativen zu Android und Apple dringend braucht. Aber der Weg nach oben wird mühsam und steinig. Denn Nokia ist nicht wie Apple mit dem iPhone der Erste, sondern muss sich von ganz hinten vorkämpfen.
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