Vollverstärker Lyric Ti 60
Die neue Röhre Ti 60 (1200 Euro) von Lyric sieht außen und innen wahrlich wie ein Gedicht aus. HiFi-Fans erwärmen sich angesichts des Preises weiter. Und was passiert, wenn sie diesen Verstärker hören?

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Normalerweise neigt Lyric-Chef Thomas Deyerling zu fröhlicher Untertreibung. Deshalb können wir dem Kelkheimer Highender glauben, wenn er seufzt: "Unser Projekt, maximal viel Röhre für 1000 Euro zu bieten, erwies sich bald als fürchterlich schwierig und hielt uns geschlagene zwei Jahre lang hin...
Normalerweise neigt Lyric-Chef Thomas Deyerling zu fröhlicher Untertreibung. Deshalb können wir dem Kelkheimer Highender glauben, wenn er seufzt: "Unser Projekt, maximal viel Röhre für 1000 Euro zu bieten, erwies sich bald als fürchterlich schwierig und hielt uns geschlagene zwei Jahre lang hin."

Der Zwang, bei der Kapazität der im Moment sündhaft teuren Elko-Stromspeicher zu sparen (in puncto Fabrikat musste es aber bei japanischen Nichicons bleiben), äußerte sich von Prototyp zu Prototyp in dünnlichem Klang. Bis die Lyricer die bis dato eingesetzten Ringkern-Netztrafos zur Seite legten und solche mit klassischem EI-Kern nahmen. Bei einem feisten Typ mit verlustarmem Kernmaterial und einer Bewicklung aus relativ dickem Kupferdraht wurden sie fündig - nun stellte sich endlich die ersehnte Grund-Klangbalance ein.
Wozu der Techniker nicken darf, denn er weiß, dass solch ein Trafo in seiner Eisenmasse in Form von magnetischen Feldern viel Energie speichert. Zum zweiten lädt solch ein Kawentsmann die Elkos viel schneller nach, sodass kaum noch die Gefahr besteht, dass anhaltendes Bassrumoren sie aussaugen kann.

Viel Zeit brauchte es auch, um bei den Ausgangsübertragern das optimale Wicklungsverhältnis herauszufinden. Klang es dann mit paarweise ausgesuchten EL 34, Phasenschieber-ECC-82 von Shuguang und einer Eingangsröhre von Electro-Harmonix schon ordentlich, kontrollierte Entwickler Stefan Noll bei den Stromversorgungswegen noch einmal jeden Widerstand und jeden Kondensator: "Das braucht's", sagt er, "bis dass eine Röhre Samba tanzen kann".
Wo in den Ti 60 nun soviel Arbeit reingesteckt war, sollte es beim Finish nicht fehlen. So leistete sich Lyric wie bei seinen größeren Amps eine superordentliche Verdrahtung, die sich zumeist nur an keramischen Röhrensockeln und ebensolchen Lötleisten abstützt. Oder das Honig-Drehgefühl, das erst der große, selbstredend auch fernbedienbare Alps-Lautstärkeregler garantiert.
Wer wollte da bei den Knöpfen knausern, also bekamen das Alps und der Eingangswahlschalter je einen aus dem Vollen Metall gedrehten, Madenschrauben-fixierten Eumel spendiert. Schließlich brauchte die Aluminium-Frontplatte unbedingt einen Zentimeter Dicke, was summa summarum und mit Verteuerungen bei der chinesischen Werkbank dazu führte, dass der Ti 60 inzwischen nicht mehr 1000, sondern 1200 Euro kosten muss.

Deshalb wird kein Highender weinen, sondern sich eher schon mal für die Messergebnisse interessieren. Etwa für die recht ordentlichen 39 beziehungsweise 37 Watt, die sich an den 8- und den 4-Ohm-Boxenklemmen abgreifen lassen. Oder für den Klirrverlauf, der in dieser Klasse als perfekt gelten kann.
Das bedeutet, dass es sich nicht empfiehlt, den Ti 60 an kritischen Schallwandlern für Synthetik-Discofetzer mit Brachialpegeln einzusetzen - an Normalboxen und für natürlichere Weisen aber unbedingt!
Nach gebotener Einspielphase erwies sich der Ti 60 sogar als einer der Verstärker, die den HiFi-Freund dazu zwingen können, bei entsprechenden Platten nicht nur einen Titel, sondern alle zu hören. Zum Beispiel die "10 Best" von der entsprechenden Chesky-CD. Dann löst spätestens "Oh Well" mit einer schnippischen Sarah K. aus Fleisch und Blut und ein sich prächtig aufbäumendes Gitarrengeranke die ersten Rückenschauer aus. Und hoppla, plötzlich kommt der Hörer bei "Dinah" von der ersten bis zur letzten Sekunde von der Jazzclub-Atmosphäre, von dem pochend-treibenden Hot-Jazz-Stampfen und den Solo-Bögen nicht mehr los.

Und wer wollte versäumen, bei "Spooky" mit der von griffigem Holzbass begleitenden Christy Baron dahinzuschmelzen? Und so geht es unweigerlich weiter bis hin zu dem A-Capella-Titel "I Still Haven't Found What I'm Looking For", bei dem der Lyric die Schwebungen der Stimmen untereinander wunderbar blühen und durch einen schön dreidimensionalen Raum gleiten lassen konnte.
Dabei blieb der Ti 60 immer ausgeglichen, lebendig warm und aufrecht, sodass es noch lange nicht - wie bei so manchem Röhren-Schwächling der Fall - die vorsichtige Hand am Pegelregler braucht. Das bewog die Tester, den tapferen Newcomer mit dem Cayin A 55 T aus selbem Hause zu vergleichen (1/06, 48 Punkte, 1650 Euro).
Den höheren Preis rechtfertigte die bewährte Röhre, die statt mit nur einer mit zwei Eingangstufen agiert, allenfalls mit etwas lockereren Bässen. Dafür breitete der Ti 60 feinere Höhen aus. Der sonst eher bodenständige Tester Uli Fessler staunte: "Der Lyric gibt Vibraphon-Tupfern den schöneren Schimmer, Ton für Ton mehr Seele." Kann ein Röhrenverstärker für 1200 Euro ein schöneres Kompliment erhalten?