Apples AirPods Pro 2 sind kein Ersatz für ein Hörgerät, aber...
Mehr zum Thema: AppleIm September 2024 hat Apple vielen Menschen Hoffnung gemacht: Die In-Ear-Kopfhörer Airpods Pro 2 sollen die Funktionen eines Hörgerätes übernehmen können. Manche sahen schon die milliardenschwere Hörgeräteindustrie in eine schwere Krise rutschen. Zu Recht? Wir haben die Funktion beim Akustiker getestet und erklären, was die AirPods Pro 2 können, aber vor allem: Was sie nicht können.

Auf seiner Website verspricht Apple ziemlich viel: "Die AirPods Pro 2 bieten eine Hörgerätefunktion auf klinischem Niveau zum Ausgleich eines wahrgenommenen leichten bis mittelschweren Hörverlusts", ist dort zu lesen. Der Autor dieser Zeilen hat einen angeborenen mittleren Hörverlust a...
Auf seiner Website verspricht Apple ziemlich viel: "Die AirPods Pro 2 bieten eine Hörgerätefunktion auf klinischem Niveau zum Ausgleich eines wahrgenommenen leichten bis mittelschweren Hörverlusts", ist dort zu lesen. Der Autor dieser Zeilen hat einen angeborenen mittleren Hörverlust auf der linken Seite und ist langjähriger Träger eines Hörgerätes. Und damit der perfekte Testkandidat. Kommen wir also gleich zur Sache.
Für die folgenden Tests haben wir mit dem Berliner Akustikspezialisten Flemming & Klingbeil (zur Website) zusammengearbeitet. Für die Kooperation und Hilfe möchten wir uns an dieser Stelle ausdrücklich bedanken.
Disruptives Potential der AirPods Pro 2?
Bei einem diagnostizierten Hörverlust bezahlen die Krankenkassen 680 Euro pro Hörgerät, für diesen Preispunkt bekommt man aber nur die einfachsten Modelle. Ein Hörgerät im mittleren Preisbereich kostet etwa 1.500 Euro. Wer also ein ordentliches Modell mit Audiostreaming via Smartphone, mit aufladbarem Akku statt Knopfzellen und mit anderen Finessen haben möchte, muss zuzahlen.
Die AirPods Pro 2 wirken daneben mit ihren 279 Euro wie ein Schnäppchen. Aber nur auf den ersten Blick. Denn um sie zu benutzen, braucht es ein iPhone und die sind ja bekanntlich nicht günstig. Der Preis relativiert sich also gleich zu Beginn, zumindest für alle, die noch kein iPhone nutzen.
Darum muss sich die Branche keine Sorgen machen
Die Hörgeräte-Industrie muss sich aber auch aus anderen Gründen keine Sorgen machen. Denn ein Hörgerät hat Vorteile gegenüber In-Ears, die sich aus der Spezialisierung auf eine Funktion und aus der Bauform ergeben:
- Akkulaufzeit: Hörgeräte (mit wiederaufladbarem Akku) sind so konzipiert, dass der Akku etwa 15-20 Stunden hält. Die Laufzeit nimmt über die Jahre natürlich ab, aber selbst mit einer Kapazität von 80 Prozent bewegt sie sich noch über den AirPods Pro 2.
- spezielle Ohrpassstücke: Wer ein Hörgerät bekommt, für den werden auch individuelle Ohrpassstücke angefertigt, die genau in den Gehörgang passen und diesen verschließen. In diese Passstücke ist ein Belüftungskanal eingelassen, um den Gehörgang zu belüften, was aus hygienischen Gründen wichtig ist und zudem einen unangenehmen Okklusionseffekt vermeidet. Die AirPods mit ihren einfachen Silikonpassstücken, können den Gehörgang nicht so sauber verschließen. Die Folge: Okklusion, aber vor allem Rückkopplungen, die umso stärker sind, je höher die Lautstärke ist.
- unauffälliges Design: Moderne Hörgeräte sind kaum sichtbar, der Hauptteil mit der Elektronik ist elegant hinter dem Ohr versteckt. Die AirPods dagegen stehen deutlich aus dem Ohr heraus und verunsichern den Gesprächspartner. Ständig fragt man sich: Hört er oder sie mir zu oder läuft im Hintergrund Musik oder ein Podcast?

Hörtest mit den Airpods Pro 2
Nichtsdestotrotz bringen die AirPods Pro 2 einige interessante Funktionen mit und sie erweitern die Funktionalität von In-Ears ganz entscheidend. An erster Stelle steht in unseren Augen der Hörtest, der ein sehr hohes Niveau erreicht. Man kann damit tatsächlich einen Hörverlust fast genauso präzise diagnostizieren wie mit einem professionellen Hörtest beim Akustiker. Hier die beiden Geräuschdiagramme im Vergleich

Aber auch hier gilt: Apple kann Hinweise auf einen Hörverlust geben, aber keine vollwertige Diagnose beim Akustiker ersetzen. Denn dessen Hörtest besteht aus mehreren Einzeltests, von denen nur der wichtigste mit den AirPods nachgebildet wird: Das allgemeine Hörvermögen wird überprüft, indem Töne auf unterschiedlichen Frequenzen wiedergegeben werden. Daraus wird ein Audiogramm wie in der Abbildung oben erstellt.
Der zweite Test erfasst das Spracherkennungsniveau, indem einzelne Wörter mit einer definierten Lautstärke abgespielt werden. Weitere Bestandteile sind die Überprüfung der Knochenschallleitung, um zu verstehen, wo genau der Hörverlust stattfindet (Mittelohr oder Innenohr) und die Bestimmung der Unbehaglichkeitsschwelle - also der Dezibelschwelle, ab der ein Ton als unangenehm empfunden wird. Die gewonnenen Daten fließen in die Kalibrierung des Hörgerätes ein. Im Audiogramm vom Akustiker oben links ist die Unbehaglichkeitsschwelle übrigens eingezeichnet - es sind die zwei Linien mit dem "U" im unteren Bereich.
Taugen die AirPods Pro 2 als kurzfristiger Ersatz für ein Hörgerät?
Die Frage, ob die In-Ears von Apple ein Hörgerät ersetzen, stellt sich aus den genannten Gründen also gar nicht. Aber auch eine kurzfristige Hörhilfe kann praktisch sein, etwa um für Verständlichkeit zu sorgen, wenn man weiter weg vom Gesprächspartner sitzt und dabei eine laute Umgebung stört. Wenn man an der Uni einer Vorlesung lauscht und ganz weit hinten sitzt. Es gibt viele Szenarien. Kann Apple hier liefern? Immerhin versprechen sie klinisches Niveau beim Ausgleich des Hörverlustes.
Um das zu überprüfen haben wir beim Akustiker das Sprachverständnis getestet. Getestet haben wir ohne Hörgerät, mit Hörgerät und mit den AirPods Pro 2 im Ohr. Die Empfindlichkeit der Mikrofone war dabei immer auf default gestellt, also den Standardeinstellungen der Hersteller. Die Ergebnisse haben uns überrascht, denn die Airpods schaffen eine deutliche Verbesserung des Sprachverständnis. Sie erreichen zwar nicht die Qualität eines Hörgerätes, aber das haben wir auch nicht erwartet. Hier die Ergebnisse im Detail.

Hier noch ein paar subjektive Eindrücke abseits der technischen Ergebnisse: Die Hörverstärkung der AirPods ist sehr hell eingestellt, sodass höhere Frequenzen überproportional verstärkt werden. Ergebnis: Eine Gastherme, die normalerweise sanft im Hintergrund summt, klingt mit den AirPods doppelt so laut und überpräsent. Man kann die hohen Frequenzen per Klang-Schieberegler zwar reduzieren, aber auch dann klingen die AirPods noch zu hell.
Bei einem richtigen Hörgerät hat man dafür einen Equalizer, aber vor allem hat man die Betreuung durch den Akustiker: Bei der Erstkalibrierung im Hörraum werden genau solche Feinabstimmungen gemacht, um einen natürlichen Klang zu erreichen. Denn Hören ist individuell: Jeder Mensch hört anders, jeder Mensch nimmt seine Umwelt akustisch anders wahr.


Fazit: Gelegenheitshörhilfe für die junge Generation
Eine Konkurrenz für die Hörgeräte-Industrie sind die AirPods Pro 2 nicht, im Gegenteil: Mit seiner Hörhilfe-Funktion trägt Apple dazu bei, das Hörgerät noch ein Stück weit aus der Seniorenecke zu ziehen. Denn viele Menschen verbinden mit einer Hörhilfe noch irgendwelche klobigen Apparate, mit denen Oma oder Opa trotzdem nur die Hälfte verstanden haben. Dabei sind die Geräte mittlerweile winzig und ultramodern. Außerdem ist ein Hörverlust mit zunehmendem Alter völlig normal und sollte unbedingt behandelt werden. Denn es ist erwiesen, dass ein unbehandelter Hörverlust zu degenerativen Erkrankungen des Gehirns beiträgt. Die AirPods Pro 2 sensibilisieren ein breites Publikum für dieses Thema. Und indem sie einen wirklich guten Job als Gelegenheitshörgerät machen, können sie den entscheidenden Anstoß für den Gang zum Akustiker geben.